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Auserwählt
Erster Teil
Eine Kurzgeschichte von
Christian Loewenthal
Grabe ich in meinen ältesten Erinnerungen, finde ich einen gewöhnlichen Menschen. Mein Leben war schlicht. Familie, nur wenige Bekannte, 8-Stunden-Job, ab und an Kino oder Pizza mit Rotwein, Sex am Wochenende und wenn es wild war, auch mal ein Quickie unter der Dusche. Es sind schöne Erinnerungen. Vergangenheit.
Nun bin ich nicht mehr gewöhnlich. Ich bin Sein Werkzeug. Ein Engel, ausgesandt Seinen feurigen, hässlichen Zorn über die Menschheit zu bringen. Ich bin der Alptraum in der Finsternis. Ich bin die Rache. Ich bin auserwählt.
Irgendwo in einer deutschen Großstadt…
Langsam fiel der Schlaf von Martin Schwarz ab. Es war weniger ein Aufwachen, als ein langsames an die Oberfläche Gleiten. Ein sanftes, streichelndes Schweben durch wärmendes Wasser. Er hatte schon lange nicht mehr so gut geschlafen. Die letzte Nacht war wild gewesen. Er hatte gefeiert und ein wenig über die Stränge geschlagen. Wohlig seufzend streckte er die Arme über den Kopf und drehte sich zur Seite, als seine Hände gegen einen harten Widerstand stießen. Überrascht öffnete er die Augen und blickte in die Dunkelheit. Alles um ihn herum war schwarz. Nirgendwo war auch nur der Schimmer von Licht zu sehen. Schlagartig fiel jede Müdigkeit von ihm ab. Rasch richtete er sich auf und schlug hart mit der Stirn gegen ein Hindernis über seinem Bett. Scheiße! Mit einem überraschten Stöhnen ließ er den Kopf zurück sinken. Der Aufprall war brutal gewesen aber vor Verwirrung spürte er den Schmerz kaum. Rechts von ihm müsste ein Lichtspalt unter dem Vorhang durchscheinen, doch da war nichts. Nur Finsternis. Vorsichtig bewegte er die Hand nach rechts und stieß nach wenigen Zentimetern erneut auf einen unnachgiebigen Widerstand. Sein Atem beschleunigte sich, wurde hektisch. Er ahnte, wo er war. Mit einem Schlag waren seine Sinne hellwach und er versuchte zu erfassen, wo er war. Was verflucht geht hier vor?! Hastig tastete er nach links und stieß erneut auf Widerstand. Er streckte die Hände nach oben aus, tastete zitternd in die Dunkelheit über seinen Kopf. Seine Arme waren kaum halb gestreckt, als er erneut gegen ein raues Hindernis stieß. Sein Herz begann zu rasen. Das kann nicht wahr sein! Fahrig tastete er durch die Finsternis. Winkelte die Beine an, streckte sich, drehte sich und stieß überall auf raue, unnachgiebige Dunkelheit. Gefangen! Ich bin gefangen! Wie konnte er gefangen sein? Er war doch in seiner Wohnung gewesen. Erst hatte er gefeiert und dann war er in seiner Küche gewesen! Wie konnte er gefangen sein? Wer hatte ihn gefangen? Er drehte und streckte sich in alle Richtungen. Heftiger diesmal. Wie ein Raubtier an der Leine, schlug er ohne Rücksicht um sich, trat nach unten und zu den Seiten. Irgendetwas tropfte ihm ins Gesicht, doch er verstärkte seine Bemühungen noch. Das Ergebnis war dasselbe. Er war gefangen. Alleine in der Dunkelheit. Er begann zu schreien. Er wollte sich aufsetzen aber sein Gefängnis ließ ihn kaum den Oberkörper aufrichten. Verzweifelt drückte er den Kopf nach oben, spürte die raue Wand der Dunkelheit über seine Stirn schrammen und drückte weiter. Du darfst nicht aufgeben! Nur nicht aufgeben! Zorn und Panik verbanden sich zu einem urtümlichen, langgezogenen Laut. Plötzlich bekam er keine Luft mehr. Panisch riss er den Mund auf und sog gierig die modrige Luft in seine Lungen. Ein Krampf griff mit glühenden Nadeln nach seiner Brust. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Ruhig, ich muss ruhig bleiben. Mit zitternden Armen und Beinen legte er sich zurück. Ruhig, nur ruhig! Denk nach! Panik würde ihm nicht weiterhelfen. Langsam ließ der Krampf in seiner Brust nach. Er bekam wieder Luft. Die Panik bringt mich schneller um als der Luftmangel. Er schloss die Augen, eine lächerliche Geste in Anbetracht der umfassenden Dunkelheit. Nur langsam normalisierte sich sein Atem. Er atmete ganz bewusst. Tiefe, lange Atemzüge. Konzentriere dich! Finde deinen Fokus! Wie vor der Jagd. Panik tötet dich hatte sein Mentor stets gesagt. Analysiere die Situation! Er war gefangen. Vermutlich in einer Holzkiste oder einem Sarg. Aber er war unverletzt. Sein Körper schmerzte wie nach einem harten Training. Er hatte sich Kopf und Hände an seinem rauen Gefängnis aufgeschlagen und sein rechtes Knie pochte, als würde es gleich explodieren aber davon ab war er offensichtlich unversehrt. Als er sich beruhigt hatte, tastete er die Dunkelheit um sich herum erneut ab. Diesmal vorsichtiger und mit Umsicht. Es gab keinen Zweifel. Er war gefangen. Sein Gefängnis bestand aus groben aber sauber zusammengefügten Brettern. Er konnte kaum eine Fuge ertasten. Wer immer ihn entführt und eingesperrt hatte, war äußerst gründlich vorgegangen. Über seinem Kopf, an der Schmalseite des Gefängnisses ertastete er plötzlich ein kleines, kaum handgroßes Gitter. Hoffnung stieß durch die Finsternis wie ein Lichtblitz. Er versuchte das Gitter mit einer Hand zu bewegen und fluchte bitter als das Metall ihm in die Finger schnitt. Die einzelnen Streben waren scharf wie Messerklingen. Entschlossen zog er sich die Ärmel über die Hände und versuchte es erneut. Diesmal mit beiden Händen. Verkrampft und verdreht versuchte er eine bessere Position einzunehmen und den Druck auf das kleine Gitter zu erhöhen. Komm schon, komm schon! Beweg’ dich! Wie in Zeitlupe fraß sich das scharfe Metall durch den Stoff und die darunterliegende Haut. Weiter, nur weiter! Immer tiefer schnitten die winzigen Klingen in sein Fleisch. Mit einem Schrei aus Schmerz und Verzweiflung zog er die Hände endlich zurück. Die Schmerzen hüllten seine verkrampften Finger ein wie flüssiges Feuer und das Gitter hatte sich keinen Millimeter bewegt. Wenigstens ersticke ich nicht. Das wäre wirklich Ironie. Wer hatte ihm das angetan? Und warum? Er wusste, dass solche Gedanken albern waren. Es gab genug Irre dort draußen, wie er aus eigener Erfahrung wusste. Für manche reichte es bereits aus, wenn man die falsche Haarfarbe hatte. Jemand war also in seine Wohnung eingedrungen, was bei seinen Sicherheitsvorkehrungen ein echtes Meisterstück war, und hatte ihn betäubt und verschleppt. Nur wieso verflucht konnte er sich dann nicht daran erinnern? Sarah war bereits im Bett gewesen als er nach Hause gekommen war. Er hatte seine Jacke über den Stuhl gehangen, war an den Kühlschrank gegangen, hatte sich eine Cola genommen und dann? Wenn ihn jemand überfallen hätte, müsste er sich daran erinnern. Bei den Gedanken an gestern Abend, merkte er plötzlich wie durstig er war. Sein Hals fühlte sich an als wäre er mit einer Drahtbürste bearbeitet worden. Der Gedanke an ein Glas Cola ließ ihm schmerzhaft würgen. Wie lange konnte man ohne Wasser und Nahrung auskommen? Er kannte die Statistiken genau. Sein Herz schlug schneller. Ein eiserner Ring legte sich um seinen Hals. Entführungsopfer erstickten oder verdursteten regelmäßig in ihren Gefängnissen. Ein gutes Versteck war nicht einfach mit einer guten Luftversorgung zu kombinieren. Von der Versorgung mit Wasser ganz zu schweigen. Keuchend sog er den Atem ein. Ersticken würde er nicht. Das kleine Gitter hatte sein Entführer nicht aus einer Laune heraus eingebaut. Aber verdursten? Angst brannte heiß in seiner Brust. Kurz dachte er an seine Tochter. Ob sie ihn vermissen würde? Er hatte sich immer bemüht ein guter Vater zu sein. Hoffentlich würde sie ihn vermissen. Es wäre schade, völlig vergessen zu sein. Wobei, vergessen sein würde er noch lange nicht. Nur schade, dass sein Name nicht berühmt werden würde. Er ließ die Schultern ein wenig kreisen, versuchte sich zu entspannen. Tief einatmen und ausatmen. Ruhe bewahren. Es gab immer einen Weg. Er wusste selbst, dass das nicht stimmte aber nun verstand er, warum die Leute das nie glauben wollten. Das Messer! Schnell tastete er nach seinem Gürtel. Er war weg. Ebenso wie die kleine Tasche mit dem Klappmesser. Heftig schlug er die Faust gegen sein Gefängnis. Wer immer ihn hier eingesperrt hatte, wäre natürlich nicht so dumm gewesen, ihm eine Waffe zu lassen. Vorsichtig tastete er seine Arme und seinen Oberkörper ab. Seine Armbanduhr war weg. Sein Ehering noch am Finger. Warum war sein verfluchter Ring am Finger? Er hatte ihn gestern Abend abgezogen und nicht wieder aufgesteckt. Der Entführer musste ihn gefunden und ihm absichtlich übergestreift haben. Was hatte das zu bedeuten? Sarah konnte mit seiner Entführung nichts zu tun haben. Oder doch? Nein! Sie war das liebenswürdigste Wesen, das er kannte. Und zugleich das am wenigsten Entschlussfreudige. Sie konnte sich morgens kaum für einen Rock entscheiden. Sie wäre gar nicht fähig einen solchen Plan zu fassen, geschweige denn vor ihm geheim zu halten.
Plötzlich flammte die Dunkelheit in grellem Weiß auf. Mit glühenden Speeren schlug das Licht in seine Augen ein und heftiger Schmerz durchzuckte ihn. Krampfartig hob er die Hände vor sein Gesicht und versuchte sich von dem Licht wegzudrehen. Er glaubte, durch seine Augenlider hindurch seine Finger sehen zu können. Stöhnend rollte er sich zur Seite. Das Licht war überall. Tränen schossen ihm in die Augen. Abwehrend tastete er mit der Hand nach vorne, stieß aber nur auf die kalte Begrenzung seines Gefängnisses.
Mit einem heftigen Schlag erfüllte ein dunkles, wummerndes Hämmern die Luft. Das Geräusch war so laut, dass er schreiend die Hände auf die Ohren presste. Krampfartig rollte er sich zusammen und schlug mit den Knien gegen sein Gefängnis. Er versuchte sich so klein wie nur möglich zu machen. Monoton und wummernd bohrte das Geräusch sich in seine Ohren und Eingeweide. Das Licht durchstieß seine Augen und ließ keine Deckung, keine Möglichkeit zur Flucht. Ein schrilles Kreischen durchbrach den wummernden Lärm und nur am Rande seines Bewusstseins war ihm klar, dass der abgehackte panische Laut aus seiner Kehle kam.
Irgendwann war es vorbei. So plötzlich wie es begonnen hatte, endete es. Bunte Lichter tanzten vor seinen Augen und ein kratzendes Sirren erfüllte seinen Kopf. Speichel floss ihm aus dem Mund, als er sich langsam entspannte. Niemals im Leben hätte er gedacht so erschöpft sein zu können.
„Was willst du?“ Seine Stimme war nur ein Krächzen in der Dunkelheit. Es gab keine Antwort. In einer wahnwitzigen Mischung aus Ärger und Erleichterung presste er die Hände auf die Augen und ein keuchendes Kichern löste sich aus seiner Brust. Dann flammte das Licht wieder auf und er rollte sich kreischend zusammen.
Sehr viel später…
Orientierungslos lag er in der Dunkelheit. Wie oft war das Licht aufgeflammt? Zehnmal? Hundertmal? Wie lange lag er schon hier? Sein ganzer Körper vibrierte vor Schmerzen. Ein metallischer Geschmack ließ ihn immer wieder würgen. Er wurde schwächer. Fahrig versuchte er sich über die Augen zu reiben. Alleine dazu brauchte er mehrere Anläufe. Wenn ich nicht sterbe, verliere ich den Verstand. Wer immer ihm das alles antat, wollte ihn offenbar zu Tode quälen. Wenn Hunger und Durst ihn nicht umbrachten, würde seine Psyche der Überreizung irgendwann nicht mehr standhalten können. Orientierungslosigkeit, Halluzinationen, Handlungsunfähigkeit, Schock und Ende. Er kannte den Ablauf. Nicht mit mir, Arschloch! Mühsam rollte er sich auf die Seite und tastete die Wand vor ihm ab. Er war kein Opfer! Niemals! In der umfassenden Finsternis konnte er nichts erkennen aber sein Gefängnis was so klein, dass er das auch nicht musste. Er bog den Kopf nach hinten und spannte die Nackenmuskeln an. Mit Schwung stieß er seine Stirn gegen die seitliche Wand. Der Schmerz schoss bis in den Nacken und vertrieb die Müdigkeit. Auf keinen Fall würde er weinerlich auf sein Ende warten. Er holte aus, soweit der beengte Platz es zu ließ und stieß den Kopf wieder nach vorne. Heftiger diesmal und der Schmerz ließ ihn überrascht keuchen. Irgendwas in seinem Nacken knackte bedrohlich. Warm floss ihm das eigene Blut ins Gesicht. Niemals, Wichser! Niemals! Ein Kichern stieg aus seiner Kehle hoch. Entschlossen bog er den Kopf zurück.
Plötzlich erfüllte ein Knacken und Rauschen die Dunkelheit und eine verzerrte Stimme erklang: „Du will schon aussteigen?!“
Die Stimme traf ihn wie ein körperlicher Schlag. Sein Brustkorb schien sich zusammenzuziehen.
„Mach das! Steig aus! Dann habe ich mehr Zeit für deine liebe Sarah und die kleine Emily.“ Zäh floss die Stimme durch die Dunkelheit.
Für einen Moment war er nicht sicher, ob die Stimme real war. Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein?! Wieder stieg ein Kichern in seiner Brust auf. Die Stimme klang trotz der Verzerrung weiblich und unverkennbar zornig. Frag sie was! Wenn du leben willst, frag sie was!
„Wer… wer sind sie?“ Er hielt den Atem an. Eine Weile herrschte Stille. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Komm schon! Rede mit mir! Er wollte nicht wahnsinnig sein. Sich die Stimme nicht einbilden.
„Warum tun sie mir das an?“
Keine Antwort. Ich bilde mir das alles nur ein. Ein Schluchzen mischte sich in das Kichern. Ihm war kalt und das warme Blut in seinem Gesicht, sein Blut, ließ die Kälte seines Gefängnisses noch eisiger werden.
„Warum ich dir das antue?“ Die Stimme klang ehrlich überrascht „Findest du nicht, dass du das hier verdient hast?“
Seine Gedanken rasten. Was war hier nur los?! „Was… was soll das bedeuten? Warum sollte ich das verdient haben?“ Seine Zunge war so angeschwollen, dass er selbst seine Worte kaum verstand.
„Ich habe dich aus deinem Bau geholt, dich in diese Kiste gelegt und könnte dich darin verrecken lassen. Trotzdem willst du weiter mit mir spielen?!“
„Spielen? Was für ein Spiel? Sind sie wahnsinnig?“ Die Worte waren kaum aus seinem Mund, als er seinen Fehler bemerkte.
„Wahnsinnig?!“ Die Stimme überschlug sich vor Zorn. „Du gestehst jetzt, was du getan hast oder ich zeige dir, was Wahnsinn wirklich bedeutet!“
„Was soll ich denn getan …“
„Lüg‘ mich nicht an!“ Die Stimme war nur noch ein heiseres Zischen. „Lüg mich nicht an! Ich weiß, wer du bist!“
Verzweifelt presste er die Hände an seine Brust. Versuchte das Zittern zu unterdrücken. „Ich weiß nicht, was Sie meinen!“
Seine Worte hallten durch die plötzliche Stille, dröhnten in seinen Ohren. Er hatte schon Angst, dass die Stimme verschwunden war. Als sie wieder sprach, war sie ruhig, leise, kaum zu verstehen, „Leugne noch einmal was du bist und ich füttere dich Stück für Stück mit deiner kleinen Emily!“
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte seine Tochter. Diese Irre hatte seine Tochter. Ein glühender Stein schien in seiner Brust zu wachsen und ihn zu verzehren. „Bitte, nein, ich leugne nichts mehr. Was immer sie wollen. Bitte!“
„Dann sag es. Ich will es hören!“
Seine Gedanken rasten. Was wollte das Miststück hören? Was würde sie reizen und was nicht? Zu viel zu sagen könnte alles noch schlimmer machen. „Ich habe es getan. Ich war es.“
„Was hast du getan?“
„Alles. Bitte tun sie meiner Tochter nicht weh!“
„Nicht so! Nicht so, verdammt! Sag die Wahrheit! Du glaubst es nicht!“ Brüllend erfüllte die Stimme die Dunkelheit um ihn herum.
„Ich glaube es!“
„Noch nicht. Aber bald. Schnipp, schnapp!“
Grelles Licht flammte auf und ein hämmernder Bass stieß wie die Klaue eines Dämons in das winzige Gefängnis. Ruckartig krümmte er sich zusammen. Die Hände auf die Ohren gepresst und den Namen seiner Tochter kreischend…
Fortsetzung folgt.